Getrocknet sind die Tränen, vergessen sind sie nicht. Am heutigen Freitag jährt sich die Flugzeugkatastrophe von Jaroslawl zum ersten Mal. Um 15:59 Uhr am 7. September 2011 streifte die Maschine vom Typ Yak 42 kurz nach dem Start einen Sendemast, stürzte wenige Meter hinter der Startbahn ab und brannte aus. An Board war das komplette Team von Lokomotive Jaroslawl, 37 Passagiere, und acht Besatzungsmitglieder, von denen nur der Bordingenieur überlebte. Auch der deutsche Nationalspieler Robert Dietrich war unter den Toten. Die Mannschaft wollte zum ersten Saisonspiel nach Minsk aufbrechen.
Ein Jahr nach dem Tod von Lokomotive hofft die Stadt, das Land, ja die gesamte KHL auf einen Neubeginn, der die Verstorbenen ehrt und ihrer gerecht wird. Mit einem Schweigemarsch begeht Jaroslawl diesen Jahrestag des Unglücks. Zehntausende werden erwartet, um an die Toten zu erinnern.
Vor einem Jahr flimmerten die entsetzlichen Bilder der zerfetzten Maschine, von Flammen, Rauch und weinenden Menschen über die Fernsehgeräte. Eine Schockstarre erfasste die Eishockeywelt, aus der sich Lokomotive nun langsam befreien möchte. Zwei Fanplakate symbolisieren den schwierigen Spagat: "Für immer", steht in schwarzen Buchstaben über dem letzten offiziellen Mannschaftsfoto des Teams 2011/2012. "Danke, dass ihr da seid", lautet das aktuelle Plakat, mit dem die Fans die neue Mannschaft begrüßen.
Aufbruch statt Hilflosigkeit, sportlich präsent sein, statt sich trauernd zu verkriechen. Der Hauch des Todes soll bei Lokomotive aus der Kabine vertrieben werden. Dafür haben die Verantwortlichen viel getan. Sie stellten Menschlichkeit über Profit, ließen trauern, weinen, verarbeiten. Eine ganze Saison lang setzte Lokomotive den regulären Spielbetrieb in der KHL aus.
Statt der Versuchung zu erliegen, möglichst schnell nach der Katastrophe für positive Schlagzeilen zu sorgen, baute der Club seine zerstörte Zukunft behutsam auf. In der Juniorenliga und in der zweiten Spielklasse durften sich neu verpflichtete Nachwuchskräfte beweisen. Ab dem Frühling begann die Arbeit an der neuen ersten Mannschaft.
"Es ging uns vor allem um die menschlichen Eigenschaften der Spieler", erklärt Manager Juri Lukin die schwierige Suche nach passenden Akteuren. "Wir wollen Spieler mit einer Verbindung zum Club, zur Region, zur hiesigen Geschichte." Viele haben von sich aus Bereitschaft signalisiert, den Neubeginn mitzugestalten.
Ein Neubeginn, der sehr schwierig wird: Sportlich, weil der ehemalige Top-Favorit gleich wieder ganz vorne mitmischen will. Und menschlich, weil sich die Mannschaft immer dem Vergleich mit den Verstorbenen stellen muss. Vor allem am Jahrestag.
Weltweit sind für den 7. September Gedenkminuten organisiert. Die KHL benannte den Eröffnungspokal zwischen Meister und Vizemeister in "Lokomotive-Cup" um, in Prag werden drei Straßen nach den verstorbenen tschechischen Profis benannt, in Jönköping der Flughafen für eine Stunde geschlossen. Auch in Deutschland - unter anderem Köln und Straubing - erinnern Clubs am Wochenende an die Katastrophe.
Jaroslawls neuer Trainer Tom Rowe will, dass auch seine Spieler trauern, gedenken und sich erinnern dürfen. Doch erst am 16. September wird Lokomotive nach vier Auswärtspartien zu Saisonbeginn an den Ort zurückkehren, an dem der Tod einer ganzen Mannschaft vor einem Jahr eine riesige Wunde hinterlassen hat, die noch lange nicht geheilt ist.
Daniel Keienburg