Fred Ledlin 1982 (links) als Juniorenspieler in Seattle und heute. Der ehemalige Tölzer möchte Aufklärungsarbeit leisten und Kinder vor weiterer Gewalt schützen.
Fred Ledlin (57) hat in 18 Jahren die Fans in Europa begeistert. Von Regensburg bis Riessersee, von Freiburg bis Bad Tölz. Er hatte einen Traum: Profi werden. Dazu musste er das kanadische Juniorensystem durchlaufen. Doch dort erlebt er unfassbare Gewalt seiner Teamkollegen. 41 Jahre später geht er an die Öffentlichkeit. Er will, dass sich etwas verändert.
Es beginnt als er 16 ist. Fred Ledlin will eigentlich nur eines. Eishockey spielen. Lernen, trainieren, besser werden. Er liebt diesen Sport, so wie alle Kanadier ihn lieben. Doch er ist Rookie, einer der jungen Neulinge im Team. Die Zeit als Rookie ist die schlimmste für Fred Ledlin, der später 18 Jahre erfolgreich in Deutschland und der Schweiz spielt. Die Erlebnisse in seiner Rookiezeit prägten ihn und verfolgen ihn seit mehr als vier Jahrzehnten.
"Als Spieler der Coquitlam Comets habe ich erfahren, wie es wirklich ist", sagt er heute, 41 Jahre später. Zum ersten Mal erzählt er seine Geschichte jetzt. "Da geht die Tür auf, sie reißen dir die Kleider weg, werfen dich auf einen Tisch, kleben dich daran fest und dann geht es los." Los geht es dann nicht mit Dummejungestreichen, Mutproben oder simplen Aufnahmeritualen. Dann beginnt etwas, das Ledlin im Englischen mit dem Wort "Hazing" beschreibt. Übersetzt bedeutet es Schikane, erniedrigende Schikane. Ledlin hat andere Worte dafür. Sexuelle Belästigung und Vergewaltigung.
Intim- und Schamhaarrasur sind noch das moderateste. Auch, dass nach der Rasur sein Körper mit Wärmesalbe eingeschmiert wird, kann er noch ertragen -obwohl er durch die stürmische Art der Teamkollegen überall offene Wunden hat, die höllisch brennen. "Aber das war noch leicht." Leicht, weil die Teamkollegen auf immer schlimmere Ideen kommen. "Sie haben Wärmesalbe auf einen Zahnstocher geschmiert und ihn mir in den Penis geschoben." Er muss auch erleben, dass ihm ein Schläger in seinen Anus eingeführt wird.
Es ist das Jahr 1979. Als 16-Jähriger kommt er ins Team der Comets. Coquitlam ist eine Stadt mit heute rund 140.000 Einwohnern im Großraum Vancouver. Ledlin wohnt 200 Meter vom Eisstadion entfernt, schafft als Junior den Sprung in die Mannschaft und ist fortan die Zielscheibe der Aktionen seiner Mitspieler. So lange, bis er nicht mehr kann und mitten in der Saison aufgibt. "Es war genug", erinnert er sich. "Ich wollte das nicht mehr mitmachen."
Ein Jahr später, 1980: Er wird ins Trainingslager der Victoria Cougars eingeladen. Es ist das erste Mal, dass er mit der Juniorenliga Western Hockey League (WHL) in Berührung kommt. Sie ist neben der OHL und der QMJHL eine der drei Talentschmieden für die große NHL. Wer sich hier in vier Jahren behauptet (die Spieler spielen von 16 bis 20 in der Juniorenklasse), kann das große Geld verdienen und ein Star werden. Doch Ledlin ist der Rookie. Immer noch. Denn er hat im Vorjahr zu wenig Spiele absolviert, um diesen Status zu verlieren. Es passiert das Gleiche wie in Coquitlam. Gewalt, Schikane, Erniedrigung. Nach dem Camp macht er Schluss. Er versucht es wieder ein Level tiefer bei den Nor-Wes Caps, die wie die Coquitlam Comets in der British Columbia Hockey League spielen. Nach wenigen Spielen wirft er auch dort das Handtuch.
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Doch seine Liebe zum Eishockey ist größer. Sein Wille ist stärker. Er unternimmt einen neuen Anlauf im Wissen, es im Vorjahr in Victoria geschafft zu haben. Diesmal bei den Kamloops Junior Oilers. "Ich wollte öfter einfach aufhören, aber so kommt man nicht weiter. Wenn man dieses Juniorenprogramm nicht durchläuft, sieht dich kein Scout, dann kannst du kein Profi werden." Doch Ledlin ist auch in Kamloops immer noch Rookie. Es passiert wieder. Er ist im Teufelskreis gefangen. Im Laufe der Saison wird er nach Seattle getauscht, nicht weil er das will, sein GM gibt ihm ein Busfahrkarte und sagt. "Ab sofort spielst du für die Seattle Breakers." Er ist immer noch Rookie. Er trifft Akteure, die zuvor seine Gegenspieler waren, denen er einen Crosscheck verpasst hat oder mit denen er einen Faustkampf geführt hat. Es hört nicht auf.
"Eishockey ist in Kanada eine Religion", sagt Ledlin. Eishockeyspieler sind in Kanada Gladiatoren, furchtlose Kämpfer. "Denn du weißt: Wenn du aufgibst, sind 1.000 andere da, die dir deinen Platz sofort wegnehmen." Jeder in Kanada will Eishockeyspieler werden. Dann ist man ein Held, ein Vorbild. Die ganze Familie sitzt samstagabends vor dem Fernseher und schaut die Hockey Night in Canada. Deren Beliebtheit ist vergleichbar mit Thomas Gottschalks "Wetten dass...?" in seinen besten Zeiten. Die Aussicht auf das große Geld ist verlockend. "Wenn man NHL-Spieler wird, braucht man kein Handwerk zu lernen oder keinen Uniabschluss zu machen."
Dafür tut man alles. Man lässt auch Dinge über sich ergehen, die weit jenseits der eigenen Vorstellungskraft liegen. "Irgendwann sind in Kanada einige Jungs auf blöde Gedanken gekommen und haben mit diesem Zeug angefangen." Es sind Aufnahmerituale für Neulinge. "Hazing, Rookie Initiating, perverse Ideen, sexueller Missbrauch." Es sind Taten, die Jahr für Jahr fortgeführt werden. Ältere Spieler schikanieren jüngere. Ehemalige Rookies werden in der nächsten Saison zu Sophomores (Spieler im zweiten Jahr). Sie wissen, was sie ertragen haben, ertragen mussten. Und nun sind sie selbst an der Reihe. Gruppenzwang. "Es ist einfach eine Kultur bei uns", sagt Ledlin und fügt hinzu, dass er es sich nicht erklären könne, warum es immer wieder passiere. Vielleicht, weil Spieler ihre eigenen Erlebnisse auf andere projizieren. "Manche haben sich gefreut, dass sie nächstes Jahr das Gleiche bei den nächsten Rookies machen können. Und manche haben sich gefragt, wie sie die Aktionen verbessern können."
Verbessern heißt noch schlimmer, noch gewalttätiger, noch perverser. Ledlin erlebt, dass er im Urin der Mitspieler baden musste. Er erlebt, dass sich Rookies zur Belustigung gegenseitig mit Fäkalien der älteren Spieler bewerfen müssen. Und Ledlin erlebt, dass ältere Spieler wie bei einer Lotterie einen Namen eines Rookies aus einem Hut ziehen. Dieser muss dann Sex mit einer vom Team angeheuerten Prostituierten haben.
"Es kam auch vor, dass sie einen Schlittschuhschnürsenkel an deinen Penis gebunden haben. Dieser wurde dann über ein Rohr an der Decke umgeleitet und am anderen Ende wurde ein Kanister befestigt, in den reihum Pucks geworden wurden." Ein Puck wiegt 170 Gramm. Er hat Spieler gesehen, die bis zu 30, manche gar bis zu 50 Pucks aushielten. Mehr als acht Kilo Gewicht.
Bevor Ledlin mit 15 Jahren wieder mit dem Eishockey anfängt, hat er fünf Jahre Pause eingelegt. Skifahren interessiert ihn, auch Skateboarding. "Ich hatte damals etwas längere Haare und als solcher wirst du automatisch zur Zielscheibe, wenn in der Kabine 19 andere mit schöner Frisur sitzen." Am wichtigsten sei: Genauso sein, wie die anderen. Doch auch das hilft nicht. Er ist nicht vorbereitet auf das, was nun passiert. Niemand sei das, sagt er. Denn Hazing sei ein Teil einer jahrzehntelangen Verschwiegenheitskultur. "Was da passiert, bespricht man nicht einfach so mit den Eltern beim Abendessen und sagt: Mom, Dad, ich wurde zehn oder 20-mal sexuell belästigt und habe einen Schläger in den Arsch gesteckt bekommen." Gleichzeitig sei das Wissen der Eltern unzureichend. Viele von ihnen haben selbst nicht gespielt, saßen nie in einer Kabine. Wenn sie Eishockey anschauen, sehen sie die Tore, tolle Spielzüge und herausragende Saves im Fernsehen. "Sie sehen nur die tolle Show."
Ledlin hat während seiner gesamten Rookie-Zeit Angst. Er erlebt und sieht die Schikane, die Gewalt und den Missbrauch in jedem seiner Teams. Es kann immer und überall passieren. Vor dem Spiel, nach dem Spiel, in der Kabine oder im Bus. "Das meiste passierte aber im Bus. Ich habe mich nie getraut zu schlafen." Und das bei zum Teil 30 Stunden dauernden Fahrten von Seattle nach Winnipeg. In der Kabine nimmt er stets die Verteidigungsposition ein. Geht er in die Dusche, ist Seife seine größte Hilfe. "Ich habe mich mit so viel wie möglich eingeschmiert. Niemand braucht so viel, aber so konnte ich besser rutschen, war nicht so leicht zu greifen. Denn wenn vier oder fünf Spieler in die Dusche kamen, wusstest du: Die wollen dich holen."
All das passiert unter den Augen der Verantwortlichen. Trainer, Co-Trainer, Betreuer, General Manager, Teameigner. "Alle haben es gesehen und alle haben es gewusst", sagt Ledlin. Alle dulden es, jeder schaut weg. Manchmal passiere es fast beiläufig. "Auf dem einen Tisch behandeln die Physios einen Spieler, am anderen wird einer rasiert und heiße Salbe auf ihn geschmiert, und daneben gehen die Betreuer vorbei und schmeißen Wäsche in die Waschmaschine." Kein Trainer tut etwas dagegen, kein Manager, kein Teameigner. "Alle haben sich schuldig gemacht. Vom jüngsten Spieler bis zum Teameigner."
Viele Spieler seien deshalb auch verklemmt gewesen, sagt er. In der Kabine ist eine Kultur der Angst zu spüren. Kein Lachen. Keine Freude am Spiel. Ledlin ist auch der Meinung, dass sich die Schikane erheblich auf das Spiel und die sportliche Entwicklung auswirkt, vor allem aber auf die Psyche. Einige halten den Druck nicht aus und verlassen die Teams -so wie er das getan hat. Es sind aber nur wenige. Wenige, die kneifen.
Ledlin will es auch nicht weiter ertragen. Er kämpft -in der Kabine, auf dem Eis. Er kämpft mit Fäusten und er kämpft mit Worten. "Ich war keiner, der die Klappe gehalten hat." Doch das macht es oft nur noch schlimmer. Bekommt man die Prozedur einmal zu spüren? Zweimal? Oder gar 50mal? Das hängt davon ab, wie sehr Ledlin sich wehrt. "Ich habe immer gekämpft, aber gegen vier, fünf Spieler hast du einfach keine Chance."
Erst als seine Rookiezeit offiziell vorbei ist, kann er aufatmen. "Ich wusste, ich habe es geschafft, jetzt muss ich keine Angst mehr haben." Er kann befreit aufspielen und sein Talent zeigen. In der Saison 1982/83 scort er 109 Punkte in 70 Spielen. In der Scorer-Liste stehen vor ihm in Deutschland so bekannte Namen wie Mark Lamb, Rich Chernomaz, oder Alfie Turcotte. Top-Scorer wird Dale Derkatch, 1994 deutscher Meister mit Hedos München.
Ledlin ist nun Sophomore. Er wird fortan verschont. Nun versucht er, die anderen Spieler von den Gewalttaten abzuhalten. Manchmal gelingt es, manchmal nicht. "Es kommt immer auf den Typ Spieler an." Je vernünftiger und reifer die Führungsspieler, desto weniger passiert. Doch erlebt hat er die Taten in all seinen Teams, für die er in der Juniorenzeit gespielt hat. In der Western Hockey League sind es insgesamt fünf.
Danach ist es vorbei. Ledlin wechselt nach Deutschland, 1984/85 spielt er in Regensburg. Nach einem Jahr an der kanadischen Universität kehrt er zurück. Es folgen verschiedene Stationen. Fünf Jahre bleibt er in Bad Tölz, wo er 1994 Oberligameister wird. Dort und in Garmisch-Partenkirchen hat er heute noch viele Freunde, mittlerweile trainiert und lebt er in Stuttgart.
Doch über das Erlebte spricht er nicht. Er verdrängt es immer wieder. Er erzählt es weder seiner Frau noch später seinen Kindern. Erst als seine Frau ihm einen Zeitungsartikel gibt, in dem andere Betroffene über ihre Erlebnisse berichten, beginnt er nachzudenken. Zwei Spieler reichen sogar eine Klage ein. "Soll ich die unterstützen?", fragt er sich.
Er macht es. Er ist nun einer von 16 ehemaligen Spielern, die die CHL, den Zusammenschluss der drei Juniorenligen, verklagen. Denn er liest, dass all das, was er erlebt, gesehen, gespürt und ertragen hat, auch heute noch passiert. "Wir leben im Jahr 2020. Eishockey hat sich so stark verändert. Das Spiel ist so viel schneller und besser geworden. Aber den Blödsinn mit den Rookies gibt es immer noch."
Seinen Sohn Mark (23, ECDC Memmingen, Oberliga Süd) hat er schon mit 15 aus Kanada in den deutschen Nachwuchs geholt. Er will nicht, dass er das Gleiche erleben muss. Er will vor allem eines: Die Kinder schützen. "Ich liebe Eishockey, es ist der tollste Sport, den es gibt." Doch er will die Kultur der Gewalt und der Verschwiegenheit brechen. Darum erzählt er seine Geschichte. "Ich mache das alles jetzt öffentlich, weil ich will, dass die Kinder ungestört Eishockey spielen können. Und auch mit 16 in einer Juniorenliga ist man noch ein Kind. Mir bringt es nichts, aber wenn ich nur einem Kind helfen kann, dass es so etwas nicht erleben muss, habe ich viel erreicht. Ich mache das jetzt, weil wir im Jahr 2020 leben. Irgendwann muss das aufhören!"
Michael Bauer